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Nachtvolk
Quelle: Montafon, Autor: Julia Mangeng
Foto: Julia Mangeng, Montafon
Beschreibung
Das unheimliche Nachtvolk ist ein zentraler Bestandteil der Vorarlberger Sagenwelt. Im Vorderland, dem Walgau und in den südlichen Talschaften des Landes treibt dieses unberechenbare Volk sein Unwesen, feiert, musiziert und flößt den Bewohnern Schrecken ein.
1) Über das Nachtvolk
Keine anderen Sagengestalten als das Nachtvolk finden sich häufiger in den Sagensammlungen Vorarlbergs. Seine wilde Schar braust und lärmt hier führerlos durch die Täler, einem dahinjagenden Totenheer vergleichbar. Doch von Toten ist in den Sagen des Montafon nie ausdrücklich die Rede. In einem Bericht wird beispielsweise die Vermutung aufgestellt, dass es sich um „verwünschte Leute“ handle.
Die bevorzugten Nächte des Nachtvolks sind die Rauch- oder Raunächte zwischen Weihnachten und Dreikönig, in denen es dann zu Saitenklang, Flötenspiel, Trommeln und Paukenschlag bestimmte Wege unsicher macht. Die Musik, die dabei ertönt, soll (zumindest teilweise) von überirdischer Schönheit sein. Deshalb gibt es auch Leute, die – vom unheimlichen Treiben des Nachtvolks fasziniert – dieses abpassten, was allerdings mit Gefahren verbunden ist. Der Volksmund erzählt, dass diesen Leuten schmerzhafte Dinge widerfahren seien. Die vom Nachtvolk zugefügten Schmerzen verschwanden erst dann wieder, wenn man sich ein oder mehrere Jahre später zur gleichen Zeit am gleichen Ort einfand, sofern man den Mut dazu aufbrachte. Das gesamte Verhalten des Nachtvolks ist ambivalent; manchmal ist es freundlich, und wer mit ihm umgehen kann, den lehrt es unter Umständen das Musizieren. Wer nicht aus dem Weg geht, neugierig oder spöttisch ist, den bestraft es mit Entrückung, Blendung, Krankheit oder einem Hieb mit dem Beil. Es sei denn, man hat vorher Weihwasser genommen, dann weiß das Nachtvolk nichts mit einem anzufangen.
Es heißt, in Vandans, ganz in der Nähe der Kapelle Venser Bild, soll das Nachtvolk früher seinen ständigen Aufenthalt gehabt haben. Nachts habe man dort oft Lichter gesehen, und an einem Stadel sei eine Heiligentafel angebracht worden, um das wilde Volk abzuwehren.
2) Das Nachtvolk in Vandans
Leute, die an einem Sonntag in der Früh in die Kirche gingen, hörten in Vandans unter des Vorstehers Haus das Nachtvolk der Ill nach aus- und einziehen. Es war ein vielstimmiges Durcheinander, wunderschöner Gesang von jugendlichen Stimmen und Klänge von Blechinstrumenten. Es tönte wie das Tosen reißender Wildbäche und wie Peitschenknallen. Auf freudiges Auflachen folgten Schmerzensrufe und dazwischen hinein war wieder alles auf einmal still. In alten Zeiten sei es gar nichts Seltenes gewesen, dass man dieses lärmende Geistervolk in der Dämmerung oder während der Nacht auch den Mustergiel entlang auf- und abgehen hörte. Es führte die Leute gar gerne irre, oder es bannte sie auch auf Stauden hinauf.
3) Vom Nachtvolk
Meine Mutter erzählt: „Mein Großvater, damals ein strammer Bursche von 24 Jahren, ging einst um Mitternacht von Rodund nach Vens. Er kam vom Hengert (1) und hatte ziemlich tief in das honigsüße Branntweingläschen hineingeschaut. Als er zur Mustergieler Brücke kam, war es ihm, also hörte er nebenan im Gäbisgstǖt Musik. Gleich dachte er an das Nachtvolk und an die Geschichte vom fünfspornigen Grambeiß (2). „Ach was,“ sprach er dann zu sich selber, „so ein Kerl, wie du bist, darf sich nicht foppen lassen.“ Und er lenkte seine Schritte schnurstracks ins Gäbisgstǖt . Doch, je weiter er kam, umso weiter zog die Dudelei. Jetzt meinte er, drei weiße Frauengestalten zu erblicken, die vor ihm hertanzten. Am liebsten wäre er umgekehrt; allein er vermochte es nicht. Es war ihm, als würde er von unsichtbaren Armen vorwärts geschoben. Bald lief er, was er konnte. Später ging´s im Sturmlaufe längs des tosenden Baches hinauf zur Schlosswand und weiter durch dichtes Gestrüpp zum Valkastieler Schloss empor. Auf einmal war alles still. Er setzte sich nieder und schlief ein. — Und als er erwachte und um sich sah, erblickte er eine weiße Zeitgeiß (3). Das war ein gutes Zeichen. Er stand auf, schnitt sich eine Schwälka (4) und trieb die Geiß hinab ins Tobel. Jenseits des Baches sah er den Geißler, wie er gerade seine Hut hinein zur Bettlerküche (5) trieb. Mein Großvater ließ sich nicht blicken und schlich auf Umwegen mǖslistill (6) nach Haus.
1 Hengert = Zusammentreffen von jungen Leuten. Meist bezeichnet Hengert ein offizielles Treffen zwischen einem Burschen und seiner Angebeteten, es kann aber auch das Zusammentreffen einer Gruppe von jungen Leuten gemeint sein. Unter Umständen kann man Hengert als das Äquivalent zum heutigen Begriff des gemeinsamen „Abhängens“ betrachten.
2 Ein Grambeiß wird oft als „fünfsporniger Hund“ beschrieben, was als „fünfspurig“ verstanden wird. Ein Hund also, der fünf Spuren mit seinen Pfoten hinterlässt
3 Zeitgeiß = eine Ziege, die zum ersten Mal trächtig ist, gewöhnlich zweijährig.
4 Schwälka = Schneeballrute
5 Bettlerküche = Ortsbezeichnung
6 mǖslistill = mucksmäuschenstill, sehr leise